„Gemeinsam sind wir noch stärker!“

Ein Interview zum Programmstart in Flensburg, Potsdam und Schwerin
27.06.2023
Foto: Behzad Ghaffarian/Unsplash

2022 startete Ein Quadratkilometer Bildung in Potsdam, Flensburg und Schwerin. Über die ersten Schritte in der Netzwerkarbeit und die Herausforderungen vor Ort sprechen die Leitungen der Pädagogischen Werkstätten Angela Fleischer, Arne Hellwig und Ulrike Kunze.

Angela, Arne und Ulrike, 2022 seid ihr jeweils als Leitung einer Pädagogischen Werkstatt zu Ein Quadratkilometer Bildung gekommen. Was begeistert euch an dem Programm?

Angela Fleischer, Potsdam: Es hilft, in einem begrenzten Gebiet mit unterschiedlichen Ressourcen die Bildungschancen von Kindern zu erhöhen. Es ermöglicht, verschiedene Akteure kennenzulernen, Akteure zusammenzubringen und zu kooperieren. Da entstehen Synergien. Zuvor fehlten gewisse Absprachen oder Träger haben einfach eher neben- als miteinander gearbeitet.

Arne Hellwig, Flensburg: Mich begeistert die Grundidee „Gemeinsam sind wir noch stärker“. Wenn wir als Verantwortungsgemeinschaft für Kinder und Jugendliche im Quartier gut zusammenarbeiten, können wir mehr bewegen. Das hat etwas Innovatives. Die Pädagogische Werkstatt ist ein Raum, in dem sich neue Dinge entwickeln und ausprobieren lassen. Etwa bei unserer Bedarfsanalyse. Die haben wir in Form eines Films gemacht. Das war neu. Dass da wirklich Raum für Neues ist, finde ich gut. Es ist viel Offenheit da, die sich auch in thematischer Vielfalt widerspiegelt. Und das überregionale Netzwerk ist ein großes Plus. So profitieren wir von anderen Standorten. Dieser intensive überregionale Austausch ist etwas Besonderes und ein großer Vorteil.

Ulrike Kunze, Schwerin: Die Vernetzung deutschlandweit finde ich toll und freue mich auf den Austausch. Bei km2 Bildung beobachte ich, dass es unheimlich viele Möglichkeiten gibt. Ich selbst bin im formalen Schulsystem sehr gut zurechtgekommen und habe später in der außerschulischen Bildungsarbeit Fuß gefasst. Da habe ich erkannt, dass Bildung viel umfangreicher, nachhaltiger, erfahrungsbasierter sein kann. Dieses Verständnis zu stärken und zu sagen „Bildung findet nicht nur im Klassenraum statt“, finde ich spannend und lohnenswert und trage es auch gern in den Sozialraum, um auch die Bildungsarbeit, die beispielsweise die Jugendarbeit leistet, zu würdigen und da auf bessere Zusammenarbeit hinzuwirken.

Ihr habt vor Ort sehr unterschiedliche Kooperations- und Unterstützungsstrukturen. Worauf baut ihr?

Ulrike Kunze: Worauf ich bereits bauen kann, sind die motivierten Fachkräfte. Es gibt durchaus schon eine Art Verbindlichkeit bei einigen Einrichtungen. Nach fünf Monaten ist das nicht selbstverständlich. Die Strukturen im Bürgerzentrum, wo die Pädagogische Werkstatt liegt, nutze ich und bin gut mit den Kolleg:innen vom Quartiersmanagement und der Volkshochschule im Austausch. Auf die migrantischen Selbstorganisationen will ich zukünftig stärker zugehen. Die wollen sich weiterentwickeln. Das stößt auch auf großes Interesse der Schule und anderer Einrichtungen.

Angela Fleischer: Ich habe einen guten Kontakt zur Weidenhof-Grundschule, der Schlüsselschule von km2 Bildung im Potsdamer Stadtteil Schlaatz, und zu den Akteuren, die das Programm ins Quartier geholt haben, zum Beispiel die Schulaufsicht.  Die Landeshauptstadt Potsdam unterstützt das Programm und ProPotsdam, die die Räume für die Pädagogische Werkstatt stellt. Und es gibt viele Kooperationen. Im Schlaatz ist beispielsweise Hunger ein Thema. Hungrige Kinder können nicht lernen. Hier gibt es Partnerschaften sogar mit Supermärkten, um mit Kindern gemeinsam Essen vorzubereiten.

Arne Hellwig: In Flensburg gab es schon vor Programmstart eine sehr interessierte Arbeitsgruppe aus Schulleitungen, Mitarbeiterinnen der Stadt, der Leitung des Jugendaufbauwerks und einer ehemaligen Schulrätin. Sie riefen die Pädagogische Werkstatt hier vor Ort ins Leben. Ich bin dankbar, dass es diese Struktur der Steuerungsgruppe schon gibt. Außerdem konnten Mittel aus dem Perspektiv-Schul-Programm des Landes Schleswig-Holstein für die Stellenfinanzierung genutzt werden. Die Stadt Flensburg ist ein zentraler Partner und mein Arbeitgeber, insofern bin ich gut mit der Bildungsplanung und kommunalen Strukturen vernetzt. Wir gehen ganz vielfältige Kooperationen ein. Mit einem ukrainischen Kulturverein haben wir ein Projekt verwirklicht, das über den Ukraine-Nothilfe Fonds der Stiftung km2 Bildung finanziert wurde. Mit dem Sportverband der Stadt Flensburg haben wir den Sportaktionstag organisiert, um Kindern aus dem Quartier den Vereinssport nahezubringen. Wir sitzen hier im Haus mit der Stabsstelle Integration der Stadt, das schafft zusätzliche Verbindungen.

Welchen Hürden begegnet ihr beim Netzwerkaufbau?

Ulrike Kunze: Es sind ganz klar strukturelle Hürden und Rahmenbedingungen, die Kooperation verhindern. Mangelnde Zeit für Netzwerktreffen, fehlendes Personal, hoher Krankenstand. Teilweise fehlt es beim Personal auch an bestimmten Kompetenzen, wie beispielsweise Mehrsprachigkeit. Es gibt Sprachen, die sind vertreten, auch unter den Fachkräften. Aber ein Großteil der Sprachen ist eben auch nicht vertreten. Aufgrund der schwierigen Personalsituation fehlt es manchmal an Verbindlichkeit oder Zuverlässigkeit. Dann gibt es da auch diese Erzählungen, dass Kinder, die in abgehängten Stadtteilen aufwachsen, auch limitiert sind, was ihre Vorstellungskraft für ihre Zukunft angeht – weil sie nur das sehen, was um sie herum passiert und nur die Erwachsenen sehen, die um sie herum agieren. Ich glaube, es gibt ähnliche Effekte bei Leuten, die zu lange in solchen Verhältnissen arbeiten: Manche können sich nicht mehr vorstellen, es könnte auch anders sein, und das mit relativ einfachen Mitteln.

Angela Fleischer: Es gibt eine Menge Angebote, aber oft fehlt es einfach an passenden Angeboten. Beispielsweise gibt es im Schlaatz keinen autorisierten Nachhilfe-Träger. Da aus dem Stadtteil herauszufahren Geld kostet, gehen die Kinder nicht zu autorisierten Nachhilfe-Trägern außerhalb. Diejenigen Ehrenamtlichen, die Nachhilfe anbieten, können wegen des fehlenden offiziellen Trägers vor Ort aber im Grunde kein Geld bekommen – das macht es manchmal schwer.

Arne Hellwig: Eine weitere Hürde ist das Verständnis. Was ist „Ein Quadratkilometer Bildung“ überhaupt? Was ist eine Pädagogische Werkstatt? Das Konzept ist recht abstrakt. Aber was bedeutet Verantwortungsgemeinschaft für Bildung konkret? Ich war kürzlich in der Schüler:innenselbstverwaltung an der Comenius-Schule, um die Pädagogische Werkstatt vorzustellen. Es war gar nicht so einfach, Schüler:innen zu erklären, was wir eigentlich machen.

Zeit, Kraft und finanzielle Ressourcen sind überall knapp. Wo habt ihr, vielleicht auch überraschend, Verbündete gefunden?

Arne Hellwig: Bei mir ist die Kernarbeitsgruppe der Motor von km2 Bildung in Flensburg – ebenso die Kommunalverwaltung und der Programmbeauftragte vom Perspektiv-Schul-Programm des Landes Schleswig-Holstein. Darüber hinaus gibt es vor Ort viele engagierte Menschen und Institutionen, zum Beispiel eine Elternsprecherin, die Referentin der Sportjugend, das Familienzentrum um die Ecke, einen Verein, der Handwerkskurse für Mädchen und Frauen anbietet, oder auch die AWO-Pflege, die mit uns ein Mehrgenerationenprojekt mit Kindern und Senioren durchgeführt hat.

Ulrike Kunze: Überrascht hat mich das Geschwisterpaar Hamud und Mohammed, die mit dem Programm „Wir sind Paten“ selbst aktiv wurden. Sie wollen die syrische Community darin unterstützen, erfolgreich durch das deutsche Schulsystem zu kommen. Das hat mich gefreut, weil es eine Basis für die Vernetzungsarbeit von km2 Bildung ist. Auf kommunaler Ebene unterstützt vor allem die Integrationsbeauftragte der Stadt Schwerin und auf kollegialer Ebene bin ich in gutem Kontakt mit anderen Sozialarbeiter:innen im Stadtteil.

Angela Fleischer: Mich hat die Revierpolizei überrascht. Eines Tages standen sie vor mir. Sie kamen aus der Schule, deren Schulleiterin ihnen von der Pädagogischen Werkstatt berichtet hatte. Wir haben gemeinsam einen Spaziergang durchs Quartier gemacht und sie haben von ihrer Arbeit erzählt. Insgesamt habe ich bisher durchweg positive Erfahrungen gemacht und nirgendwo einen Korb bekommen. Bei der Stadt nicht und auch nicht bei den Kolleg:innen anderer Programme und Träger im Quartier. Wenn ich km2 Bildung vorstelle, verschwindet auch eventuelle Konkurrenzangst. Der Tenor war immer: „Wie schön, da können wir voneinander profitieren und zusammenarbeiten.“

Was wünscht ihr euch für 2023?

Ulrike Kunze: Geht es jetzt um die Wunderfrage? Dann wünsche ich mir bessere Rahmenbedingungen für die pädagogischen Fachkräfte, mehr Partizipation auf politischer Ebene und Anerkennung der enormen Herausforderungen im Bildungsalltag. Und ich würde mir wünschen, dass wir mehr Expertise zum Thema Mehrsprachigkeit in unserem Kiez aufbauen. Das wäre toll!

Angela Fleischer: Ich plane gerade die Eröffnungsveranstaltung gemeinsam mit der Schule. Dass die gut gelingt, wünsche ich mir. Ansonsten sollte es einfach so weiterlaufen wie bisher.

Arne Hellwig: Im Prinzip das gleiche, was Ulrike und Angela sich wünschen. Es ist wichtig, ausreichend Menschen zu haben, um Dinge noch besser umzusetzen und nicht im Tagesgeschäft unterzugehen, falls mal jemand ausfällt. Für mich persönlich bin ich ganz zufrieden. Hier gibt es viel Unterstützung und ich wünsche mir, dass es so bleibt.

Angela Fleischer ist Sozialpädagogin und seit 1993 bei der RAA Brandenburg beschäftigt. Zuletzt arbeitete sie als Regionalreferentin für Bildung und Integration. Seit Oktober 2022 leitet sie die Pädagogische Werkstatt von km2 Bildung in Potsdam im Schlaatz. Sie erlangte Zusatzqualifizierungen als Mediatorin, Trainerin für Erwachsenenbildung und Anti-Bias-Trainerin.

Arne Hellwig ist Koordinator der Pädagogischen Werkstatt im Flensburger Norden. Während des Studiums der Sozial- und Kommunikationswissenschaften beschäftigte er sich mit Bildungsgerechtigkeit und engagierte sich ehrenamtlich dafür, dass junge Menschen ihre Talente entfalten können. Sich nun in der Berufspraxis für Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen einsetzen zu können, schätzt er sehr.

Ulrike Kunze hat in Neubrandenburg und Magdeburg Soziale Arbeit (M.A.) studiert. In der Folge arbeitete sie sowohl in der Praxis als auch in der Hochschullehre, zuletzt auch an einer Berufsschule für Erzieher:innen. Seit September 2022 leitet sie die Pädagogische Werkstatt im Campus am Turm und fördert den Ausbau des Bildungsnetzwerks in Neu Zippendorf und Mueßer Holz