Beharrlich zum Bildungserfolg

Gemeinsam mit ihrer Familie flüchtete Lemar als Fünfjährige 2011 aus Syrien. Es folgten vier Jahre in Ägypten, in denen sie ihr erstes Schuljahr absolvierte. Geleitet vom Wunsch nach einer höheren Lebensqualität und besseren Bildungschancen für die Kinder zog die Familie 2015 nach Deutschland. In km2 Bildung Wuppertal traf Lemar auf ein Bildungsnetzwerk, dessen Engagierte sie förderten und sich als Fürsprecher:innen im Bildungssystem für sie einsetzten. Wir sprachen mit Lemar und ihrer Lernbegleiterin Monika Hensche.
11.05.2023
Foto: Martin Gómez
Lemar, wie hast du den Neuanfang in Wuppertal empfunden?

In Wuppertal haben wir zuerst in Barmen gewohnt, von da aus sind wir dann nach Elberfeld umgezogen. Von Barmen aus bin ich zwei Jahre lang in Elberfeld in die Seiteneinsteigerklasse an der Grundschule Königshöher Weg gegangen, danach war ich noch für kurze Zeit in der dritten Klasse an einer Grundschule in Barmen. Als wir nach Elberfeld umzogen, hat mein Vater mich und meinen Bruder an der Grundschule Markomannenstraße angemeldet. Es war am Anfang alles ein bisschen schwer, ich kam hierher und kannte nichts, wusste nichts, ich hatte keine Sprache, alles war durcheinander, in der Seiteneinsteigerklasse waren auch so viele Sprachen. Aber ich mochte es hier von Anfang an. Die Menschen hier sind freundlich, man fühlt sich sicher, es ist grün und schön.

Wie hast du deine Lernbegleiterin Moni kennengelernt?

Lemar: Moni habe ich im vierten Schuljahr kennengelernt, nachmittags in Treffpunkt Schule, da haben wir uns unterhalten. Moni hat mich angesprochen, sie war zu der Zeit nicht so oft in der Grundschule, sie hat damals mehr in der Alten Feuerwache gearbeitet.

Moni: Ich kann mich noch erinnern, dass mir sofort deine blitzenden Augen aufgefallen sind … Deinen Vater hatte ich noch vor dir kennengelernt, in meiner Mittagspause, da sind wir ins Gespräch gekommen. Er hat gesagt: Meine Kinder brauchen Hilfe. Und ich habe gesagt: Wir arbeiten mit Kindern! – und habe ihm die Visitenkarte der Pädagogischen Werkstatt gegeben. Daraufhin hat er deinen Bruder und dich bei Treffpunkt Schule angemeldet. Es hat mir auf Anhieb Freude gemacht, mich mit dir zu unterhalten. Ich war beeindruckt, wie du den Tag von dir und deinem jüngeren Bruder gemanagt hast.

Welche Angebote der Pädagogischen Werkstatt nutzt du?

Zuerst war ich bei Treffpunkt Schule – eine tägliche Hausaufgabenhilfe, die war richtig wichtig für mich. Wenn wir Hilfe brauchten, haben wir die dort bekommen. Mit Ruhe. Nach den Hausaufgaben gab es immer noch etwas im Leseclub: zweisprachige Bücher lesen mit Anne, dazu mit Puppen spielen, Kreativkino, nähen mit Heide, basteln mit Kirsten …  Das war eine große Hilfe für uns Kinder, wir haben mehr Chancen bekommen: Hilfe für die Schule und noch etwas dazu. Anfangs war Lesen für mich sehr anstrengend, ich habe die Sätze oft nicht richtig verstanden. Die Programme, die ihr für die Kinder zur Verfügung stellt, helfen ihnen. Ihr unterstützt die Kinder, um ihre Fähigkeiten zu stärken – nicht nur als Job, ihr macht das von Herzen und das merken die Kinder, dann kommen sie gerne. Ab Klasse fünf kam ich dann zu Moni ins Lerncafé. Wir lernen zwei bis viermal pro Woche zusammen, manchmal auch öfter, manchmal auch noch spät per Videoanruf.

In die PW (=Pädagogischen Werkstatt, Anm. d. Red.) passen viele rein, falls man leise arbeitet. Der Raum ist für verschiedene Aktivitäten gut, da kann man auch basteln, spielen, vorlesen, Kino veranstalten. In den Ferien gibt es immer Programm. Das Licht ist abends so schön – ich sag auch Leuchtcafè … Manchmal ist es da besser als zu Hause. Zu Hause wohnen jetzt mit mir Mama, Papa, Omi, Opa ist 2022 gestorben, meine drei Brüder und meine kleine Schwester Naya, sie ist jetzt drei. Ohne eure Unterstützung hätte ich mich verloren gefühlt und diese Fortschritte nicht machen können.

Foto: Martin Gómez
2018 wurde ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Lernen bei dir festgestellt. Wie ging es dir damit? Was ist seither passiert?

Damals lief es schlecht in der Schule. Die letzte Deutscharbeit hatte ich richtig verhauen – sechs. Danach durfte ich dann manchmal nicht mehr am normalen Unterricht teilnehmen, sondern musste raus, in andere Klassenräume und da mit anderen Kindern und einem anderen Lehrer Aufgaben machen, mit denen man mich unterschätzt hat. Ich frage mich immer noch, wer das so empfunden hat, dass ich nicht so schlau bin? Ich hatte schlechte Chancen, als ich in die 3. Klasse gestartet bin – schlechter als die anderen Kinder, die seit der 1. Klasse da waren. Die hatten Zeit, sich an alles zu gewöhnen und sich zu integrieren. Ich wurde auch direkt eingeschult, ohne Kita. Das Schulsystem in Ägypten war ganz anders, in Ägypten wurde ich oft angeschrien. In Klasse fünf wurden wir nur in Englisch rausgeschickt. Das war mir immer peinlich, immer wenn es Englisch gab, mussten wir I-Kinder (Inklusionskinder, Anm. d. Redaktion) aus dem Unterricht raus. In Physik durfte ich nicht mitmachen, denn die I-Kinder hatten nach der dritten Stunde Schluss. Wir mussten nach Hause gehen, aber ich wollte bleiben. Ich bin eine normale Schülerin. Die Lehrer wollten darüber nicht mit mir kommunizieren. Ich wollte aber nicht, dass das ein anderer für mich entscheidet. Das erste Halbjahr an der neuen Schule war für mich sehr grausam.

Irgendwann habe ich mich entschieden, nicht aufzugeben! Ich wollte den Förderbedarf loswerden und wie die anderen Kinder Noten bekommen und mich wie ein normaler Mensch fühlen. Ich habe vielleicht die sprachliche Qualität nicht, aber die Fähigkeiten eines Realschülers. Ich wollte es mir und den Lehrern beweisen, dass ich es kann. Und irgendwann haben die Lehrer gemerkt, mir ist es ernst, haben mich immer mehr einbezogen und das langsam akzeptiert … und mir die Noten unter die Arbeiten geschrieben, weil ich das so wollte. Auf dem Zeugnis gab es zuerst immer noch keine Noten. Ich war auch hier stur, irgendwann haben die Lehrer eingelenkt.

Bei den Elternsprechtagen war Eva (Somrei, Leiterin der Pädagogischen Werkstatt, Anm. d. Red.) oft dabei und hakte immer wieder nach, wie die Lehrer den Förderbedarf einschätzen, wie und wann er aufgehoben werden kann. Ende der siebten Klasse war es dann so weit.

Moni, du begleitest Lemar schon einige Zeit: Wie hast du die vergangenen Jahre erlebt?

Was ich bewundere, ist ihre Durchhaltekraft und ihr Interesse. Sie ist so aufgeweckt. Egal, was in der Schule passiert, sie lässt sich nicht entmutigen – Lemar ist ein echtes Stehaufmännchen. Sie hat so originelle Gedanken, die sie noch nicht immer in Worte fassen kann. Ich liebe es, wenn sie mir zum Beispiel arabische Sprichwörter vermittelt.

Lemar und Moni, was begeistert euch aneinander?

Lemar: Egal, wie ich denke, Moni kommt auf meine Gedanken. Sie hilft mir auch bei Problemen außerhalb der Schule. Sie ist immer freundlich, sie kommt immer auf deinem Niveau an, ich finde, sie ist einfach richtig, richtig toll. Wir können über alles reden … ich glaube, ich habe eine ältere Seele und Moni eine jüngere. Das passt gut zusammen.

Moni: Ich finde deinen Blick auf Deutschland und die Welt so faszinierend, der ist so ganz anders als unserer. Deine Art zu denken ist wunderbar ungewöhnlich und lässt mich alltägliche Dinge immer wieder in neuem Licht sehen.

Fotos: Martin Gómez